Der Stadtschreiber von Zwickau musste in der Frühen Neuzeit als der oberste Verwaltungsbeamte seiner Stadt keineswegs nur schreiben. Er hatte vielmehr umfassende Bereiche zu verantworten: als juristischer Berater des Bürgermeisters, als Fachmann für die Finanzen, der die Rechnungen der Stadt führte, oder als Gesandter, beispielsweise zum Kurfürsten oder zu anderen Städten. Außerdem verwaltete er das gesamte Schrifttum der Stadt, auch die altehrwürdigen Privilegien, die ihr im Laufe der Jahrhunderte verliehen worden waren, oder die Gesetze, die sie sich selbst gegeben hatte. Das heißt, er war nach dem Bürgermeister und den Ratsherren der wichtigste Mann in der Stadt und hatte viele Fäden in der Hand.
Dass er einmal eine so herausragende Persönlichkeit seiner Heimatstadt werden sollte, war dem Schuhmacherssohn Stephan Roth sicher nicht in die Wiege gelegt worden. Immerhin hat sein Vater, der sich die Lateinschulausbildung von dreien seiner Söhne leisten konnte, die Grundlagen dafür geschaffen, denn er sorgte für eine umfassende Ausbildung seines Sohnes. Stephan besuchte im Verlauf von etwa zehn Jahren fünf oder sechs Lateinschulen (Glauchau, Chemnitz, Annaberg, Halle, Dresden und vermutlich Zwickau) jeweils für kürzere Zeit, wie es dem Gebrauch seiner Zeit entsprach.
Von 1512 bis 1517 studierte er an der Universität in Leipzig und erwarb den Titel eines Magisters der freien Künste (zweiter akademischer Grad seiner Zeit). Aus seiner Schüler- und Studentenzeit sind zahlreiche Mitschriften überliefert. Sicher begann er schon in diesen frühen Jahren mit dem Sammeln von Büchern, denen seine Leidenschaft ein Leben lang galt.
Im Anschluss an sein Studium trat er im Herbst 1517 seine erste Arbeitsstelle als Schulmeister in Zwickau an. Bis zum Frühjahr 1521 leitete er die hiesige Lateinschule. Mit Hilfe einer Schulbrüderschaft, die sein Onkel Peter Drechsel gegründet hatte, förderte er die Schule auch finanziell. 1519 hatte die Stadt eine griechische Schule unter der Leitung von Georgius Agricola (siehe dort) gegründet. Als die beiden Schulen 1521 zusammengelegt wurden, verließ er Zwickau und arbeitete von Sommer 1521 bis Herbst 1522 als Schulmeister in Joachimsthal.
Im Frühjahr 1523 ging er nach Wittenberg, kam in den engeren Umkreis Luthers und schloss sich den Lehren des Reformators vorbehaltlos an. Ab Oktober studierte er Theologie an der Wittenberger Universität, später auch ein wenig Jura. In dieser Zeit schrieb er viele Predigten und Vorlesungen der lutherisch gesinnten Theologen und vor allem von Luther selbst mit, dessen Predigten er in Sammlungen, den sogenannten Kirchenpostillen, herausgab. Auch übersetzte er einige lateinische Psalmenkommentare Luthers aus dem Lateinischen ins Deutsche. Damit trug er wesentlich zur Verbreitung der lutherischen Lehre (und auch der lutherischen Sprache) unter den weniger Gebildeten bei, denn er wendete sich mit seinen Ausgaben ausdrücklich an den „einfachen" Hausvater und den armen Pfarrer, die sich keine teuren Bücher kaufen konnten, damit sie ihren Zuhörern die christliche Botschaft in Luthers Worten vorlesen könnten.
Diese Arbeiten Roths und die etwa 4000 an ihn geschriebenen Briefe wurden zu einer unentbehrlichen Quelle für die Herausgabe von Luthers Schriften bis ins 20. Jh.
Seinen Lebensunterhalt in Wittenberg verdiente er sich als Mitarbeiter bei allen wichtigen Buchdruckern der Reformation. Er korrigierte oder übersetzte die zu druckenden Bücher, und er gab weitere Schriften heraus. 1524 heiratete er die Wittenberger Bürgerstochter Ursula Krüger.
1527 trat er in die Zwickauer Stadtschreiberei ein, deren Leitung er 1533 übernahm. Nun konnte er sich ein großes Haus kaufen, das noch heute in der Inneren Schneeberger Straße, Ecke Hauptmarkt, mit seinen Renaissance-Fenstern zu sehen ist. (Der neogotische, zur Zeit grün angestrichene Giebel zur Marktseite gehörte zu Roths Zeiten noch nicht dazu.)
Als Oberstadtschreiber straffte er die gesamte Stadtverwaltung, schuf neue Grundlagen für die Arbeit des Rates (Vermögensübersicht der Bürger, Steuerordnung, städtisches Lehnbuch, Archivierung) und präzisierte das Kämmereiwesen.
Anfang der dreißiger Jahre verteidigte der Rat zusammen mit Roth das Recht, die Kirchen- und Schulstellen eigenverantwortlich zu besetzen. Dadurch geriet er in einen scharfen Gegensatz zu Luther, der ihm die Hauptverantwortung unterstellte und ihn 1531 exkommunizierte. Erst 5 Jahre später wurde dieses Verdikt aufgehoben, aber die Wertschätzung Luthers konnte Roth nicht wieder erlangen. Trotzdem genoss er als Verwaltungs- und Finanzfachmann hohes Ansehen im ernestinischen Sachsen und erledigte auch überregionale Aufgaben (z.B. die Einnahme derTürkensteuer). 1543 wurde er in Anerkennung seiner Verdienste in den Zwickauer Rat aufgenommen. Eine weitere Karriere war ihm allerdings nicht möglich, denn er litt an mehreren Krankheiten (ein Steinleiden, ein offenes Bein und das „Podagra"), die ein kontinuierliches Arbeiten in seinen letzten Lebensjahren behinderten.
Als angesehener und einflussreicher Mann mit strengen moralischen Grundsätzen wurde er oft um Hilfe gebeten. Von den fast 4000 an ihn geschriebenen und noch vorhandenen Briefen enthalten die meisten eine Bitte, die er mit geradezu erstaunlicher Hilfsbereitschaft zu erfüllen versuchte. Er vermittelte Geschäfte, darunter Kredite und Kuxe (eine Art Bergbau-Aktie), leistete juristischen Beistand, besorgte Anstellungen und Ausbildungsplätze, brachte auf Bestellung jede gewünschte Ware von der Leipziger Messe mit (besonders viele Bücher), war unentwegt kontaktfreudig und hilfsbereit. Sein Wort galt auch in theologischen Fragen.
Er liebte gutes Essen und Trinken, führte eine unglückliche, kinderlose Ehe, erzog aber elternlose Kinder aus der Verwandtschaft in seinem Hause. Seine Frau starb im Herbst 1545. Im Januar 1546 heiratete er Barbara Pfützner, eine Tochter des Zwickauer Waagemeisters. Nach kurzer Ehe, bereits am 10. Juli 1546, starb Stephan Roth im Alter von 54 Jahren.
In seinem Testament übereignete er seine Bibliothek von ca. 6000 Bänden seiner Vaterstadt Zwickau mit der ausdrücklichen Bedingung, sie für die Lateinschulausbildung zu nutzen. Die Bücher bilden eine der bedeutendsten stadtbürgerlichen Privatbibliotheken seiner Zeit im deutschsprachigen Raum. Sie umfassen nahezu alle Sachgebiete des universitären und des außeruniversitären Wissens.
Roth gehört über die Zusammenarbeit mit Luther hinaus als ein „praktischer Humanist" zu den bedeutenden Intellektuellen der Reformationszeit im Kurfürstentum Sachsen. Als Lateinschulmeister und Schulaufseher, als Stadtschreiber von Zwickau, der auch überregionale Aufgaben erfüllen konnte, hat er einen eigenen Beitrag für die Herausbildung eines moderneren Schulwesens und einer moderneren Verwaltung des ernestinischen Territoriums geleistet.
Sein gesamter schriftlicher Nachlass und seine Bibliothek werden in der Ratsschulbibliothek Zwickau aufbewahrt. Die Zeugnisse seiner Stadtschreibertätigkeit finden sich in großer Fülle im Stadtarchiv Zwickau.